Die Originaltexte Schopenhauers gibt es an vielen Orten im Internet. Zum Beispiel bei Zeno.org oder im Projekt Gutenberg.
Eine der elementarsten Fragen metaphysischen Denkens, die Frage nach der wahren Beschaffenheit von Zeit und Raum, wie beide unabhängig unserer Wahrnehmung sei, stellt sich zugleich als interessantes Beispiel der genialen Denkkraft Schopenhauers. Ich möchte mich in diesem Teil in Form einer persönlichen Interpretation Schopenhauer's Perspektive damit auseinandersetzen.
In seinem von ihm als organisch - und nicht architektural - zu gestalten versuchtem Hauptwerk "die Welt als Wille und Vorstellung" (fortan WaWuV), beginnt Schopenhauer damit, die gesamte Erscheinung der Welt als idealistisch zu erklären. Er tritt damit den in seiner Zeit geführten Diskussion über die tatsächliche Existenz einer Aussenwelt mit einer genialen Gedankenkette entgegen, die zeigt, das sowohl die Materialisten, welche zuerst das Vorhandensein der Zeit und des Raumes vermuten, auf dem sich die Subjekte (die Menschen) bewegen, und den Idealisten, welche das Subjekt als gegeben hinstellen, und behaupten, die Zeit und der Raum sei ein durch das Subjekt imaginiertes Etwas, zwar nicht im Irrtum, aber in einer falschen Perspektive philosophieren. Das genaue Verständnis von Schopenhauers idealistischer Grundansicht ist zunächst wichtig, um tiefer in seine Gedanken über Raum und Zeit einzusteigen.
Das entscheidende in seinem Idealismus ist die gegenseitige Abhängigkeit des Materialismus und des Idealismus. Ohne ein Subjekt - also einen Betrachter, der sich in seinem ihm befähigten Rahmen ein Komplementärabbild des Objekts(der Aussenwelt) bildet, kann ein Objekt genau so wenig existieren - wie es ein Objekt ohne ein es sich imaginierendes Subjekt sein kann. Dies ist das entscheidende, wenn er die Behauptung aufstellt "die Welt ist meine Vorstellung".
Wenn irgendeine Wahrheit a priori ausgesprochen werden kann, so ist es diese: denn sie ist die Aussage derjenigen Form aller möglichen und erdenklichen Erfahrung, welche allgemeiner, als alle andern, als Zeit, Raum und Kausalität ist[...]
Die apriorität dieses Grundsatzes wird beängstigend dadurch deutlich, das man heute in der modernen Quantenphysik genau auf dieses Phänomen des Daseins überhaupt stösst: Hier schafft man sich eine virtuelle Komplementärwelt, in der sich Objekte (Quanten) wechselseitig bedingen - und erst bei Betrachtung des Zustandes der Objekte fängt die Kausalkette an zu springen. Eine Anwendung apriorischer Grundsätze, die man aufbauend auf der Quantenphysik durchführen will, scheitert grundsätzlich an der nicht möglichen Vorhersagbarkeit durch Regeln und logischen Konstrukten, wie der Mathematik. Folgerichtig müsste man also hypothetisch hinstellen, das die Treffsicherheit mathematischer Gleichungen in unserer Aussenwelt subjektiv bedingt ist.
Doch zurück zum Thema. Der organische Gedankenbau Wawuvs gibt es an die Hand, zum Verständnis von Schopenhauers Perspektive über den Raum und die Zeit das Werk nicht nötigerweise von vorne zu lesen. Denn nach der Klarstellung der idealistischen Ansicht des Werkes geht er über, das Wesen Zeit als Succession - also die Trennung von abstrakten Gebilden in ihre Teile, und den Raum als wechselseitige Bestimmung ihrer Objekte zu analysieren. So wie nun also Objekt und Subjekt voneinander abhängig sind, so ist es die Abhängigkeit des Raumes mit der Zeit, und vice versa, die uns die Erscheinung der Materie ermöglicht (Materie ist hier nicht im heutigen modernen Sinn zu verstehen, sondern nur die sich als den Regeln des Raumes und der Zeit gehorchenden Substanz).
Für das Verständnis ist weiterhin zunächst nötig, das Schopenhauers zweiter Aspekt seiner hypothetischen Welterklärung, nämlich das die Welt mein Wille sei, zunächst, wie auch im Originaltext erläutert, aussen vor gelassen werden soll. Denn der Wille liegt ausserhalb der Formen der Raum und Zeit, oder wie er es formuliert, ausserhalb vom Satze des zureichenden Grundes. Wie in meinen Augen der Wille es aber doch tut - oder sich zumindest in diesen Formen äussert, - will ich ein anderes mal besprechen.
Raum und Zeit spricht Schopenhauer nur dem Objekt zu. Das Subjekt, also das erkennende, liegt nicht in den Formen von Raum und Zeit. Für Schopenhauer ist die Erkenntnis des Grundaspektes allen Objekts intuitiv - das bedeutet, das der Mensch, als Subjekt, Raum und Zeit ohne jegliche Abstraktion wahrnehmen kann. Er ist zwar fähig, in Form von Mathematik und Geometrie zu abstrahieren - aber entscheidend ist, das für die Bildung des Gesamtbildes der Aussenwelt keine Abstraktion nötig ist. Damit spricht er also beispielsweise auch dem nicht-vernunftfähigen Tier ein Bewusstsein - also ein bewusstes Sein, zu. Das Tier kann seine Entscheidungen über Verhaltensmaßnahmen also ohne jegliche Abstraktion - ohne das Fragen nach dem Warum und dem Wert seiner Taten machen. Er ist der vollkommene Diener des Willens. Ich könnte mich nun darüber aufregen, das er diese Perspektive im vierten Kapitel als Grundlage für seine Ethik nimmt, bei der er nur dummes pessimistisches Zeug erzählt - aber ich zwinge mich nun, beim Thema zu bleiben.
Erst durch die Abstraktion erkennt der Mensch die offensichtliche apriorität der Gesetze in Raum und Zeit.
Zunächst beginne ich etwas weiter unten in WaWuv, in §5. Schopenhauer behauptet, das das Verhältnis zwischen Objekt und Subjekt kein kausales Verhältnis ist (Eine tiefer gehende Definition der Kausalität folgt zwar vorher im WaWuV, aber für das Verständnis ist eine andere Reihenfolge anzuraten). Dies sagt, das das Objekt und das Subjekt das gleiche ist - und es die Abstraktion des Menschen ist, die diesen Aspekt der Welt "Vorstellung" in diese beiden Kategorien teilt.
Es ist nicht so, das "der Mensch wahrnimmt, weil etwas passiert" - sondern die "Wahrnehmung ist das Passieren". Ebenso kann man den Satz umkehren. "Es passiert nichts, weil der Mensch wahrnimmt" - sondern "das Passieren ist das Wahrnehmen".
Nebenbei entwurzelt Schopenhauer hier noch den zur damaligen Zeit sehr aktiven Streit zwischen dem Dogmatismus und Skepticismus, wo "jener bald als Realismus, bald als Idealismus" auftritt.
Konkreter geht Schopenhauer in etwa ab diesem Abschnitt von §3 ein:
[...]Zeit erkannt. Wie in ihr jeder Augenblick nur ist, sofern er den vorhergehenden, seinen Vater, vertilgt hat, um selbst wieder eben so schnell vertilgt zu werden; wie Vergangenheit und Zukunft (abgesehn von den Folgen ihres Inhalts) so nichtig als irgend ein Traum sind, Gegenwart aber nur die ausdehnungs- und bestandlose Gränze zwischen Beiden ist; eben so werden wir die selbe Nichtigkeit auch in allen andern Gestalten des Satzes vom Grunde wiedererkennen und einsehn, daß wie die Zeit, so auch der Raum, und wie dieser, so auch Alles, was in ihm und der Zeit zugleich ist, Alles also, was aus Ursachen oder Motiven hervorgeht, nur ein relatives Daseyn hat, nur durch und für ein Anderes, ihm gleichartiges, d.h. wieder nur eben so bestehendes, ist.[...]
Hier wird im Grunde nur weiterhin darauf hingewiesen, das die Gesetze von Raum und Zeit nicht objektiv sind - sondern stets durch die Einflussnahme des Subjekts beeinflusst wird.
Die wechselseitige Bestimmung des Raumes und Zeit, welche als Resultat die Materie hervorrufen soll, wird in der äusserst komplizierten ersten Hälfte von §4 durch das rein hypothetische Gedankenexperiment, was passieren würde, wenn man den Raum ohne die Zeit und die Zeit ohne den Raum imaginiert, zu beweisen versucht. Das hier in meinen Augen Schopenhauer auf die Tücken der Abstraktion hereinfällt, in dem er mit den Begriffen Zeit und Raum wie mit etwas getrennten voneinander jongliert, ist in diesem Fall der Wahrheit dieser Behauptung nicht schädlich, sondern verstärkt nur Schopenhauers Perspektive.
Der Raum ohne die Zeit - ein Veränderungsloses, ewiges, stillstehendes Dasein. Kein Wirken - und keine Kausalität.
Die Zeit ohne den Raum - die ständige Veränderung des Formlosen, keine Materie - und keine Kausalität.
Materie nun aber bedingt die Kausalität - ihr Sein ist ihr Werden.
Das erkennen von Kausalität ist nun die einzige Funktion des Verstandes, die Schopenhauer attestiert. Diese radikale, in meinen Augen richtige Meinung ist, wenn man sich über die enorme Tragweite der Schopenhauerischen Definition von Kausalität bewusst ist, eine weitaus wichtigere Grundeinsicht des Wesens der Welt, als er sich an dieser Stelle selbst zugesteht.
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